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Mythos und Feindbild

Es gibt wohl kaum einen Wiener Bürgermeister, dessen Anhänger und Gegner ein so differenziertes Bild von seiner Persönlichkeit entwarfen, wie dies bei Lueger der Fall ist. Glorifizierung auf der einen stand und steht oft pauschalisierende Ablehnung auf der anderen Seite gegenüber. Ohne Zweifel war der "schöne Karl" und "Herrgott von Wien", wie ihn manche seiner Anhänger in grenzenloser Bewunderung nannten, eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Persönlichkeit. Volkstümlich und in weiten Kreisen de Bevölkerung höchst populär, war er "der erste bürgerliche Politiker, der mit Massen rechnete, Massen bewegte, der die Wurzeln seiner Macht tief ins Erdreich senkte" (Arbeiter-Zeitung, 11.3.1910).

Auch wenn Karl Lueger, wie zahlreiche Quellen belegen, selbst kein überzeugter Antisemit war, bediente er sich etwa ab Mitte der 1880er Jahre antisemitischer Rhetorik und kultivierte antisemitische Klischeevorstellungen zugunsten seiner politischen Zwecke. Als überzeugter Anhänger des Rechtsstaates ließ er dem verbalen Antisemitismus nie Taten folgen oder stellte die staatsbürgerlichen Rechte von Juden in Frage. Nach der politischen Konsolidierung der Christlichsozialen um die Jahrhundertwende wurden die frühen radikaleren Antisemiten langsam, aber nachhaltig zurückgedrängt, während Lueger Josef Porzer, der eine jüdische Mutter hatte, und Heinrich Hierhammer, der mit einer Jüdin verheiratet war, zu Vizebürgermeistern machte. Eine klare Trennlinie zog Lueger zu den rassischen Antisemiten um Schönerer. Nichtsdestotrotz war sein Verbalantisemitismus Vorbild für andere und brachte ihm die unverhohlene Sympathie antisemitischer Vereine und Publikationen (wie dem "Kikeriki") ein.

Unter den zahlreichen Ehrungen, die Lueger zu Lebzeiten zuteil wurden, ist an erster Stelle die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien (3. Juli 1900) zu nennen. Nach dem Tod wurden ihm ein Denkmal errichtet (Enthüllung 1926) sowie zwei Verkehrsflächen (Dr. Karl Lueger-Ring, 1934; Dr. Karl Lueger-Platz, 1926) nach ihm benannt. Der autoritäre Ständestaat versuchte die in weiten Teilen der Bevölkerung ungebrochene Popularität durch das Theaterstück "Lueger" (1934) für sich zu nutzen. Der nationalsozialistische Propagandafilm "Wien 1910" (1943) verklärte ebenfalls seine Person, stellte aber klar, dass die Zukunft "anderen Ideen" gehörte.